Ina aus China

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Brandenburg Oktober 1937Das neue ZuhauseSieben dumpfe Schläge dröhnen durchs Zimmer. Der tiefe Klang lässt die Luft vibrieren und dringt bis unter das schwere Federbett. Was ist das? Legt der Dampfer schon wieder ab? Ruckartig richtet Ina sich auf.Verwirrt blickt sie in einen ihr völlig unbekannten Raum: ein hohes Zimmer mit einem Fenster, durch dessen geschlossene, weiße Gardinen das Morgenlicht dringt. Davor ein Schreibtisch, ein Stuhl, eine Kommode, eine emaillierte Waschschüssel mit Wasserkanne und an der Längswand das Bett, in dem sie sitzt. Wo bin ich? Erst als ihr Blick auf den Koffer fällt, der geöffnet, aber unausgepackt neben dem Bett liegt, kommt die Erinnerung an den gestrigen Abend zurück. Sie war so müde gewesen, dass Frau von Steinitz ihr nur schnell das Nachthemd herausgesucht und sie dann gleich ins Bett geschickt hat. Unter dem dicken, warmen Federbett ist Ina sofort eingeschlafen. Frau von Steinitz“ - sie lässt den schwierigen Namen probeweise über die Zunge laufen - Frau von Steinitz“. Das Bild einer grauhaarigen Frau mit Haarknoten stellt sich ein, die sich über sie beugt, sie zudeckt, gute Nacht sagt. Ob da wohl auch falsche Haarsträhnen drin sind wie bei Liuma?Und was hat es mit diesem sonderbaren Dröhnen auf sich, das im Zimmer nachhallt und klingt, als käme es von einer Schiffssirene? Ina lässt sich von der Bettkante gleiten und geht barfuss über knarrende Holzdielen zum Fenster. Vorsichtig schiebt sie den Vorhang zur Seite. Unter ihr liegt eine von Bäumen gesäumte Straße. Weit und breit kein Ozeandampfer in Sicht. Wenn sie den Kopf ein wenig nach links dreht, kann sie eine große Kirche aus roten Backsteinen sehen, daneben einen Turm. Bis hoch hinauf ist er viereckig gemauert, dann folgt ein Stück mit noch mehr Ecken und einer Uhr, und obenauf sitzt wie eine Mütze ein spitzes Dach mit goldener Kugel. Die Turmuhr zeigt sieben. Ein Turm, der zu einer Kirche gehört wie in Tsingtau. Dort, so haben die Schwestern erzählt, hätten früher, als die Deutschen noch da waren, Glocken die Stunden geschlagen und zum Gottesdienst geläutet. Später wurden sie dann entfernt. Ja, das muss es sein! Es waren Kirchenglocken, die eben siebenmal geschlagen haben: sieben Uhr. Eigentlich praktisch, so einen Kirchturm in der Nähe zu haben, findet Ina. Der wird mich also in Zukunft immer wecken.Rasch gießt sie Wasser aus der Kanne in die Schüssel, wäscht sich das Gesicht, trocknet sich mit dem rauen weißen Handtuch ab und zieht ihre Sachen an, die jemand - bestimmt nicht sie selbst - ordentlich über die Stuhllehne gebreitet hat. Vor der Tür hört sie Geräusche. Sie öffnet sie einen Spalt und späht hinaus: ein langer, dunkler Flur, von dem mehrere Türen abgehen. Vorsichtig lauscht sie an jeder einzelnen und probiert es mit jener, hinter der Klappern und Wasserrauschen zu hören ist. Das muss die Küche sein. Ein zaghaftes Klopfen, und die Tür wird von innen geöffnet. Frau von Steinitz steht, eine Kittelschürze über Rock und Bluse, vor ihr und lächelt sie an: Guten Morgen Ina, hast du ausgeschlafen?"Guten Morgen", ist alles, was Ina herausbringt. Immerhin passt das. Aber wie weiter? Keine Marta, keine Sprache. Aber die Dinge sprechen für sich, und Frau von Steinitz teilt ihnen mit klarer, deutlicher Stimme Bezeichnungen zu. Hier sind Brot, Butter und Marmelade", sie deutet auf ein Tablett, auf dem alles bereit steht. Dein Frühstück." Brot, Butter, Marmelade; Brot Butter Marmelade“, wiederholt Ina wie einen Abzählreim. Sie kennt diese Dinge vom Schiff. Jetzt haben sie ihre Namen bekommen und zusammen ergeben sie ein Frühstück“. Frau von Steinitz wendet sich fragend an Ina: Milch?" Sofort spürt Ina klebrige Haut an ihrem Gaumen haften und verzieht angewidert das Gesicht. Verstehe", sagt Frau von Steinitz. Dachte ich mir schon. Deinen Cousins und deiner Cousine ist es genauso gegangen. Riech mal, ob dir das besser schmeckt?" Sie hält Ina eine Kanne mit heißer, dunkelbrauner Flüssigkeit unter die Nase. Die riecht so ähnlich, wie wenn Liuma aus Versehen den Reis anbrennen ließ. Ina hat sich dann immer die Krusten erbettelt.Das ist Malzkaffee."Ina lächelt dankbar. Jetzt hat auch dieses herrenlose Wort seinen Platz gefunden.Malzkaffee, bitte."Gut machst du das. Du kannst mir beim Reintragen helfen." Frau von Steinitz nimmt die dampfende Kanne und überlässt Ina das Tablett. Dann geht sie über den Flur ins Speise- und Wohnzimmer voraus. Es hat mehrere große Fenster zur Straße hinaus und Gardinen aus schwerem, dunklem Stoff. In der Mitte, auf einem bunt gemusterten Teppich, steht ein ovaler Tisch aus rötlichem Holz mit cremefarbener Häkeldecke darauf. Dort nehmen sie ihr erstes gemeinsames Frühstück ein. . .Von nun an verläuft Inas Tagesablauf nach geregeltem Muster: Um sieben wird sie von den Domglocken geweckt. Nach dem Frühstück mit Frau von Steinitz gehen sie zusammen in die Stadt einkaufen. Auf diese Weise hat sie schon einiges von Brandenburg gesehen, das in Inas Augen die Bezeichnung Stadt kaum verdient. Kein Verkehrsgetümmel, keine Menschenmassen, keine hohen Häuser, keine großen Schiffe. Auf den vielen Kanälen, die die Stadt durchziehen, sind nur kleine Schlepper, Fischerboote und Ausflugsdampfer unterwegs. Alles bewegt sich ruhig und geordnet: die Leute auf den breiten Gehsteigen, die wenigen Autos auf der Fahrbahn, die Elektrische in ihren Geleisen, die Schiffe auf den Kanälen. Polizisten scheinen hier überflüssig zu sein. Fast alle Leute auf der Straße grüßen einander; wer sich kennt, tauscht ein paar freundliche Worte; andere, meist in brauner Uniform, reißen zu einem knappen Gruß, der wie ein heiseres Räuspern klingt, den rechten Arm vor sich in die Höhe. Hier kennen sich tatsächlich fast alle, und selbstverständlich kennen bald alle Ina. Außer ihr gibt es hier nämlich keine Ausländer; kein exotischer Turban, kein fremdländisch geschnittenes Gesicht, keine dunkler getönte Hautfarbe, wie das in Schanghai zum Straßenbild gehörte. Und alle sprechen nur eine Sprache: Deutsch.Der Markt besteht aus einer Reihe geordneter Stände und findet nur einmal die Woche statt, deshalb heißt er Wochenmarkt. Auch wenn das Lexikon behauptet, das hier sei dasselbe wie das lebhafte Gewimmel in Schangahi, so kann Ina keinerlei Gemeinsamkeiten entdecken mit der überdachten Markthalle, in die Liuma sie manchmal mitgenommen hat. Dort wurde täglich alles frisch gekauft, was Liuma in den Wok wandern ließ: vielgestaltige Blattgemüse, Schoten, Knollen und Wurzeln. Dann zu den Fischständen, wo sich Reisfeldaale in Bottichen tummeln und Garnelen ihre langen Fühler ausstrecken. Und weiter zu den Käfigen mit Geflügel und anderen essbaren Tieren, durch deren Gitterstäbe sich Schnauzen, Tatzen, Pfoten, Krallen und Schnäbel schieben. Liuma hätte nie ein Huhn gekauft, das sie nicht lebend gesehen hat. Schließlich die Obststände mit ihrer Farben- und Formenpracht: Melonen aller Größen und Sorten, grün gelockte Buddhaköpfe, leuchtend orangefarbene Kumquat und der große stinkende, stachelbewehrte Durian. Liuma betastet jede Frucht, bevor sie wählt, und feilscht anschließend gnadenlos. Düfte, Gerüche, Gestank und ein ständiges Stimmen- und Sprachengewirr, in dem das einzig verlässliche das Anzeigen von Anzahl und Preis mit den Fingern ist. Zum Abschluss dann noch an den Stand mit den süß-sauer-salzigen Pflaumen, auf denen man ewig herumkauen und das letzte Aroma von dem völlig abgenagten Kern lutschen kann. Von denen hat Liuma Ina meist ein Tütchen spendiert, oder ein Stück Lauchpfannkuchen im öligen Papier direkt auf die Hand. Renao ging es zu auf den Schanghaier Märkten heiß und laut, was für Chinesen soviel bedeutet wie fröhlich“, geschäftig“.Ganz anders hier: kühl und still ist es ein Gegensatz, wie er größer nicht sein könnte. Alles geht geordnet, ruhig und höflich vor sich; Obst und Gemüse sind zu ordentlichen Stapeln aufgetürmt, die Tiere sind alle tot. Gutenmorgenfrauvonsteinitz wasdarfsdennheutesein?“ Als ob die Auswahl so groß wäre: Lauch, Kohl, Kartoffeln vielleicht ein paar Radieschen und Runkelrüben, die weder schön anzuschauen sind noch gut schmecken, Ina gefallen sie nur wegen ihrer lustigen Namen. Man deutet auf die Ware, die man nicht berühren darf, dann wird sie abgewogen und widerspruchslos bezahlt. Und genau so farb- und geschmacklos erscheint Inas Gaumen das, was Frau von Steinitz aus dem Gekauften kocht. Aber sie will nicht ungerecht sein, sie sieht ja selbst, wie begrenzt das Angebot ist. Trotzdem hat sie schon ein paar Lieblingsgerichte: Kartoffelpuffer oder Pfannkuchen mit Apfelmus, gebrannte Griessuppe und Bouletten.Nach dem Mittagessen, bei dessen Zubereitung Ina oft mithilft, macht Frau von Steinitz ihren Mittagschlaf. Dabei darf sie auf keinen Fall gestört werden. Auch Ina ist dann ungestört, kann spielen oder ihren Gedanken nachhängen. Meist legt sie sich aufs Bett und sortiert die vielen neuen Eindrücke in ihrem Kopf, Namen und Gesichter, Gerüche und Geschmäcker. Doch der volle Bauch und die Wärme des Betts lassen die Gedanken oft in Liumas Küche, unter das Trommeldach des Monsunregens entschlüpfen. Eingehüllt in das Zirpen der Zikaden und den freundlichen Singsang von Papas Stimme schläft sie dann ein.Jäh wird sie in die Wirklichkeit zurückgeholt, wenn Lehrer Altmann um halb drei an der Wohnungstür klingelt. Dann sitzen sie zwei lange Stunden zusammen am Wohnzimmertisch. Zuerst nehmen sie sich eine Seite des Bildwörterbuchs vor, die Ina sich jeden Tag aussuchen darf. Wie kann diese ganze fremde Welt zwischen zwei Buchdeckeln Platz finden? Welche der Seiten soll sie zuerst aufschlagen? Am besten mit dem Naheliegenden beginnen. Da ist zum Beispiel ein Wohnzimmer. Das im Lexikon sieht zwar etwas anders aus, als das, in dem sie jetzt sitzen, aber viele Wörter sind brauchbar: Der Esstisch, das Sofa, die Anrichte, das Radio, der Bücherschrank, nur etwas, das Gummibaum“ heißt, kann Ina hier nicht entdecken. Die Zeichnung zeigt eine kümmerliche Pflanze in einem Topf. In Schanghai wucherte so etwas im Garten und war mehr als mannshoch! Aber dafür gibt es hier etwas, das im Lexikon Radio“ heißt und das Lehrer Altmann als Volksempfänger“ bezeichnet. Das spielt an den Abenden mit Frau von Steinitz eine wichtige Rolle. In der zweiten Stunde ist Schreiben an der Reihe. Ina hat eine Fibel, aus der sie die neuen Buchstaben und Wörter lernt, und zwar in Deutscher Schreibschrift. Die ist genauso spitz und kantig wie die deutsche Sprache, aber äußerst praktisch, findet Ina. Heute zum Beispiel ist das i“ dran: Rauf runter rauf, und ein Pünktchen drauf", hat ihr Lehrer Altmann als Merkvers beigebracht. Schon ist wieder ein Buchstabe fertig. Und von diesen simplen Gebilden gibt es gerade mal sechsundzwanzig. Wenn das kein Kinderspiel ist für jemanden, der sich zu Hause mit Hunderten von komplizierten Schriftzeichen herumschlagen muss! Deutsche Kinder wissen ja gar nicht, wie gut sie es haben. Sobald Ina begriffen hat, welche Vorteile ein Alphabet hat, fällt ihr ein großer Stein vom Herzen: Wenn diese sechsundzwanzig Buchstaben genügen, um zu wissen, wie man die neuen Wörter ausspricht, dann kann sie ihr Bilderlexikon bald auch selbst zum Sprechen bringen. Keine lästigen Fragen mehr. Die Tür zur neuen Sprache hat sich einen Spalt weiter aufgetan. Brandenburg 1939Ein neuer Krieg.Dann ist das Spiel also mit deinem Schwiegervater von Brandenburg nach Peking gereist, und von Peking ist es mit Vaters Onkel nach Schanghai und später in Papas Besitz gekommen, und der hat es dann mir mitgegeben, als ich nach Tsingtau fahren musste. Und mit mir ist es wieder hierher zurückgekehrt. Meinst du, das hat er absichtlich gemacht? In der Schachtel lag nur ein Zettel mit ein paar Gedichtzeilen, als Marta mir das Spiel aus Schanghai mitbrachte.“Was war das denn für ein Gedicht?“Es handelt vom Mondfest, und dass Menschen, die sich gern haben, dann beieinander sein sollen oder beim Anblick des Mondes aneinander denken sollen.“Ich denke schon, dass er sich etwas dabei gedacht hat. Es war dir eben vorbestimmt, nach Brandenburg zu kommen und dieses Spiel an seinen Entstehungsort und in die Familie von Steinitz zurückzubringen.“ Auch Muma ist ganz aufgeregt über diese Entdeckung. Fast ein wenig ungestüm zieht sie Ina an sich und drückt ihr einen Kuss auf die Wange. Sie selbst scheint über diesen untypisch heftigen Gefühlsäußerung ebenso überrascht wie Ina. Doch gleich darauf verwandelt sie sich wieder in die gewohnte Muma zurück: Für heute räumst du das Spiel jetzt besser ein. Es ist wirklich schon sehr spät.“Vorherbestimmt“ yuan das ist ein Wort, was auch Liuma oft benutzt hat. Eine vorbestimmte Begegnung, eine schicksalhafte Fügung - so etwas kam in ihren Geschichten ständig vor. Und immer hatten irgendwelche Götter dabei die Hand im Spiel. An die glaubt Ina zwar nicht, aber ihr wird trotzdem ganz feierlich zu Mute. Andächtig legt sie jeden Stein einzeln zurück in die Schachtel. Wer die wohl alles schon angefasst hat? Und was die gesehen haben? Waren sie womöglich sogar in der Verbotenen Stadt? Als sie fertig ist, stellt sie die Schachtel neben das Mensch-ärgere-dichnicht-Spiel in die Anrichte. Das Domino ist ihr jetzt doppelt kostbar, nicht nur als Erinnerung an den Vater, sondern auch als Symbol für die Freundschaft zwischen Mumas Familie und ihrer eigenen. Obwohl es schon so spät ist, kann Ina heute nicht gleich einschlafen. Ihr Kopf arbeitet auf Hochtouren. Ihre Gedanken kehren immer wieder zu diesem weit gereisten Herrn zurück, der in Peking über Verpflegung verhandelt hat. Wenn es den und seine Kartoffeln und Kohlköpfe nicht gegeben hätte, wäre sie jetzt nicht hier. Oder noch einen Schritt zurück: Wenn die Ausländer nicht die chinesischen Boxer geärgert hätten und der deutsche Kaiser daraufhin nicht seine Truppen geschickt hätte . . . Andererseits, wenn es keinen Krieg zwischen Chinesen und Deutschen gegeben hätte, wären ihre und Mumas Vorfahren nicht Freunde geworden. Aber auch die Japaner sind ein entscheidendes Glied in dieser Kette. Wenn die China nicht besetzt hätten, hätte sie keinen Grund gehabt, nach Deutschland zu kommen. Dann wäre sie Muma vermutlich nie begegnet, und das Dominospiel hätte nicht nach Hause zurückgefunden. Wenn dann, es ist wie bei der Kettenreaktion fallender Dominosteine: Ein Stein reißt den nächsten mit sich, ein Ereignis stößt viele weitere an. Vorbestimmung? Wer ist es, der den ersten Stein anschubst? Aber Ina kommt es so vor, als hätten diesmal nicht Liumas Göttern den Anstoß gegeben. Ein Wort taucht in der Geschichte immer wieder auf: Krieg. Bei ihr und ihren Vorfahren war jedes Mal der Krieg der Auslöser für das, was anschließend geschah. Und jetzt und hier reden schon wieder alle von Krieg. Aber daran will Ina jetzt lieber nicht denken. Nur eine Frage beschäftigt sie noch: Warum wollte dieser Major unbedingt Kartoffeln und Kohlköpfe für sich und seine Soldaten, wo es doch in China so viel bessere Sachen zu essen gab? Vier Monate später ist er da der Krieg, der Ernstfall, für den sie im Luftschutzkeller geübt haben. Ina und Muma sitzen im Wohnzimmer vor dem Volksempfänger. Übertragen wird die Erklärung des Reichskanzlers Hitler vor der Reichsregierung vom 1. September 1939:. . .Brandenburg 1940Geld für Lebende und Tote. . .Jeden Sonntag geht Muma zum Neustädtischen Friedhof, und manchmal kommt Ina mit. In China geht man nur einmal im Jahr ans Grab am so genannten Gräberputztag Anfang April. Dann wird die Grabstelle vom wuchernden Unkraut befreit, und man veranstaltet ein Picknick mit den Toten. Die Lebenden breiten die mitgebrachten Speisen auf dem Grabstein aus, und durch brennende Räucherstäbchen können auch die Toten an dem Mahl teilhaben. Anschließend isst man die Sachen auf. Während Ina darüber nachdenkt, fällt ihr auf, dass die Chinesen zu feierlichen Anlässen immer essen, egal ob mit Lebenden oder Toten. In China liegen die Gräber verstreut in den Hügeln und Feldern vor der Stadt, angelegt nach den Regeln des fengshui, damit sie im richtigen Verhältnis zu Wind und Wasser“ liegen. Ein Fachmann muss die Lage des Grabes für jeden Verstorbenen mit einer komplizierten Scheibe berechnen und dabei dessen Geburtsdatum und viele andere Faktoren berücksichtigen. Hier ist natürlich alles in ordentlichen Reihen angelegt, einheitlich ausgerichtet und das ganze Jahr über ordentlich gepflegt. Auf Wind und Wasser“ wird dabei keine Rücksicht genommen.Mumas verstorbener Mann hatte im Juli Geburtstag, und an diesem Tag stellt sie ihm immer einen Strauß mit Levkojen, seine Lieblingsblumen, aufs Grab. Ina war schon öfter mit ihr auf dem Friedhof. Auf dem Grabstein steht:Siegfried von SteinitzMajor1840-1936Das ist der Mann mit der Pickelhaube, der hier auch begraben liegt. Darunter steht:Georg von SteinitzOberleutnant1896-1917Dein Mann ist aber jung gestorben. Der war ja erst einundzwanzig.“Ja, wir waren gerade ein Jahr verheiratet, als er einrücken musste. Das war im letzten Krieg. Er ist in Frankreich gefallen.“Während Muma kaum sichtbares Unkraut aus der Grabeinfassung zupft, fällt Ina ein, dass ihre Mutter ja auch kaum älter gewesen ist, als sie gleich nach der Geburt ihres ersten Kindes starb. Plötzlich schnürt ihr der Gedanke an diese junge, ebenfalls viel zu früh verstorbene Frau, die sie nie kennenlernen konnte, den Hals zu. Ihre Gedanken wandern vom Neustädtischen Friedhof in Brandenburg in den Hinterhof des Schanghaier Hauses: Was machst du da, Liuma?“, hatte sie gefragt, als sie die gute Seele des Haushalts einmal mit einem roten Blecheimer mit Löchern in den Hof hinter der Küche gehen sah. In der anderen Hand hielt sie ein dickes Bündel, das wie Geldscheine aussah.Ui, woher hast du denn so viel Geld?“Das ist Totengeld, Dickerchen, kein richtiges. Indem man es verbrennt, schickt man es den Toten, die in einer anderen Welt leben. Dort brauchen sie ja auch Sachen und was zu Essen. Mit diesem Geld können sie sich dann das Nötige kaufen.“Ina betastete die Scheine aus grobem, gelblichem Papier. Auf manche ist dünnes Gold- oder Silberpapier aufgeklebt, andere sind mit Gebrauchsgegenständen bemalt: ein Kamm, eine Bürste, ein Paar Schuhe, Essstäbchen. Inzwischen hatte Liuma ein Streichholz angezündet und den ersten Schein damit in Brand gesetzt. Sofort ging er lodernd in Flammen auf. Liuma warf ihn in den Eimer, wo er sich noch eine Weile glimmend aufplusterte und dann in federleichte Ascheflöckchen auflöste. Dann ließ Liuma einen Geldschein nach dem anderen langsam durch die Finger gleiten und zündete ihn an. Ihr Gesicht war dabei so konzentriert und abwesend, dass Ina nicht wagte, sie anzureden. Endlich war Liuma fertig und erklärte: Man muss jeden Schein einzeln in die Hand nehmen und dabei ganz fest an den Empfänger denken, damit er auch beim Richtigen ankommt, verstehst du?“Wem schickst du sie denn?“Meinen Eltern, die sind beide schon gestorben. Ihr Grab ist in dem Dorf, aus dem ich komme. Aber das kann ich nur einmal im Jahr, in meinem Urlaub, besuchen. Deshalb schicke ich ihnen Geld von hier.“Meinst du, ich könnte meiner Mama auch so was schicken?“Natürlich kannst du das.“ Liuma reichte ihr einige von den Scheinen mit der Gold- und Silberfolie. Vorsichtig nahm sie einen davon in die Hand und dachte dabei an die hübsche junge Frau auf dem Photo auf Papas Schreibtisch. Dann hielt sie eine Ecke an die zwischen der Asche glimmende Glut und ließ das Papier, als es aufflammte, schnell in den Eimer fallen. So machte sie es mit den anderen auch.Und jetzt bitte noch einen Kamm und eine Bürste.“ Auch die gingen in helle Flammen auf, und Ina stellte sich vor, wie sie in dem Wirbel aus heißer Luft und Ascheteilchen zu ihrer Mutter gebracht wurden. Zum Abschluss hatte Liuma noch ein paar Räucherstäbchen angezündet und auch Ina welche gegeben. Die musste man vor der Brust auf und ab schwenken, damit die Spitzen auf
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